Was erzählen wir?

Was erzählen wir?

© U. Breinl

Wir erzählen Märchen, Schwänke, Mythen und Sagen – aber auch selbst erfundene, literarische und biografische Geschichten. Unsere Stoffe reichen von den ältesten Epen der Weltliteratur bis zur selbst erdachten Zukunftsvision, von verschachtelten Dramaturgien langer Geschichten und abendfüllender Programme bis zum kurzen, pointierten Witz an einem offenen Abend.

Alle Erzähler*innen des Vereins erzählen traditionelle Stoffe. Dazu gehören vor allem Volksmärchen. In den Zaubermärchen verhilft eine magische Kraft der Heldin oder dem Helden zum Erreichen des Ziels. In den Schwänken oder Schwankmärchen ist es der Held/die Heldin selbst, die mit List, Klugheit oder durch Zufall ihr Glück machen. Sagen wiederum handeln von Orten und Personen, die einen realistischen Hintergrund haben und/oder seltsame Phänomene erklären. Auch Fabeln, also Tiergeschichten, in denen die Tiere menschliche Eigenschaften haben, die Gesellschaftskritik üben oder erzieherischen Zwecken dienen, finden sich im Repertoire der Erzähler*innen.

Einige der Erzähler*innen haben sich auch auf mythologische Stoffe spezialisiert, erzählen griechische Göttersagen, oder Epen wie Homers Odyssee. Aber auch keltische oder germanische Heldensagen wie das Nibelungenlied, National-Epen wie das persische Königsbuch von Firdausi, das georgische Der Recke im Tigerfell, das türkische Buch des Dede Korkut oder das finnische Kalevala gibt es im Programm.

Aber nicht nur Traditionelles, ursprünglich mündlich Überliefertes bietet Erzählstoff. Manchmal ist es auch die selbst erfundene Geschichte oder handlungsintensive moderne Literatur. Die Erzähler*innen bringen dann den Plot in eine selbst entwickelte, erzählbare Form und kürzen ganze Romane auf ein Stundenprogramm.

Auch Biographien sind zentrale Quellen für Erzählstoffe. Das Spektrum reicht von weltberühmten Persönlichkeiten über Heldinnen des Alltags bis zu leichtfüßigen autobiografischen Erlebnissen.

Viele Erzähler*innen des Vereins sind mehrsprachig und haben einen persönlichen Bezug zu den traditionellen Geschichten des Landes, aus dem sie stammen. Manche greifen auf Geschichten ihrer eigenen Familien zurück. Allgemein verfolgen die Erzähler*innen des Vereins aber einen transkulturellen Ansatz, das heißt eine Erzähler*in tritt nicht als Vertreter*in nur einer bestimmten Kultur auf, verkörpert nicht die Tradition und Weisheit einer Kultur, sondern sieht sich als Mensch unter Einfluss verschiedener Kulturen, ist immer eine Grenzgänger*in verschiedener kultureller Systeme. Daher bewegt sie sich auch frei durch die Stoffe unterschiedlicher Herkunft, entdeckt Vertrautes im Fremden und macht das Fremde wiederum durch Aneignung im Vertrauten erzählbar.

 

Die Aktualität der traditionellen Stoffe

Stoffe, die heute als älteste Überlieferungen der Weltliteratur gelten, hatten schon bevor sie zum ersten Mal verschriftlicht wurden eine lange Zeitreise der Mündlichkeit hinter sich. So alt die Stoffe auch sind, an Aktualität haben sie nie verloren, da sie zeitlose Menschheitsthemen behandeln.

Das älteste literarische Denkmal der Menschheit, das Gilgamesch-Epos, das vor 5000 Jahren im Zweistromland in Tontafeln geritzt wurde, handelt von Herrschaftskritik, vom Übertreten von Gesetzen aus persönlicher Ruhmessucht und Gier, von der rücksichtslosen Verwüstung der Umwelt, aber auch von der Sehnsucht nach einem gleichwertigen Gegenüber, nach Freundschaft und (gleichgeschlechtlicher) Liebe, und vor allem von dem menschlichen Streben nach ewigem Leben. Diese Themen sind auch heute brandaktuell angesichts unserer Klimakrise, einem immer neue Tribute fordernden Neoliberalismus, gleichgeschlechtlicher Liebe, der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und von Forschungen, die darauf ausgerichtet sind, das menschliche Leben zu verlängern.

Die Erzähler*innen erschließen diese zum Teil schwer zugänglichen Stoffe durch – oft jahrelange – Recherche. Sie reißen sie aus ihrer verstaubten Erstarrung, die sie durch die Verschriftlichung und Verwissenschaftlichung erfahren haben, holen sie in eine neue Mündlichkeit zurück und machen sie jedem, also auch fachfernem und nicht vorgebildetem Publikum zugänglich, ohne dabei an Tiefe des Inhalts zu verlieren. Das ist ein Teil ihrer Kunst.

Die Erzähler*innen unseres Vereins suchen bewusst nach Stoffen, die einen aktuellen Bezug haben. Sie befreien die Geschichten von überholten Rollenbildern, rassistischen Zuschreibungen und religiösen Überhöhungen. Wenn sie diese im Inhalt doch erhalten, dann bewusst, um historische Entwicklungen aufzuzeigen, die Zeit der Handlung und deren Weltanschauung zu verdeutlichen. Dann versehen sie sie aber mit einem Kommentar, der ihre persönliche Distanz zu den betreffenden Haltungen und Aussagen in der Geschichte reflektiert.

 

Seelenbilder im Märchen

Die hilflose Prinzessin im Turm, die Grausame, die den Freiern den Kopf abschlagen lässt, Hexen, böse Stiefmütter, glückliche Einfältige, tapfere Krieger und stumme Prinzen im Märchen, bleiben aber erhalten, denn sie stellen keine realen Akteure dar, sondern sind als Seelenbilder zu verstehen -einfach, eindimensional, klar voneinander abgegrenzt, offensichtlich in Gut und Böse eingeteilt. Ihre verschlüsselten Botschaften können unsere persönlichen Handlungsmuster aufdecken, uns Erleichterung verschaffen, uns von ihnen erlösen, und uns letztendlich heilen.

Wie viele Elternteile schließen auch heute noch ihre Kinder ein, in der Sehnsucht sie vor der schrecklichen Außenwelt und ihren Gefahren zu beschützen, oder ihrer Liebe auf ewig gewiss zu bleiben und sie nicht an einen Partner zu verlieren. Die Sehnsucht junger Menschen, den idealen Partner, die ideale Partnerin zu finden ist zeitlos. Wie viele junge Liebende müssen ihre Reife erst beweisen, um am Ende die wahre Liebe – also die Prinzessin oder den Prinzen – zu gewinnen!

Die vereinfachten Archetypen im Märchen können wie ein Spiegel wirken, der eigene Schwächen erkennen lässt. Die Figuren im Märchen decken verschiedene miteinander in Konflikt stehende Persönlichkeitsanteile jedes Menschen ab. Sie müssen eindimensional bleiben, um sie einzeln betrachten zu können. Das Märchen dient dazu, diese seelischen Anteile von uns miteinander ins Spiel zu bringen, abzuwägen, Disharmonien auszugleichen und uns selbst vor Augen zu führen – und nicht um ein bestimmtes Rollenbild aus dem Märchen in unser Leben zu übernehmen.

Um diese Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit nicht zu verwischen, modernisieren die Erzähler*innen das Inventar der Märchen in der Regel nicht, sondern belassen es in seiner traumartigen, zeitfernen Zeit, „als das Wünschen noch geholfen hat.“

Viele Märchen, Mythen und Sagen handeln von respektvollem Umgang mit der Natur. Oft formulieren sie die Warnung an den Menschen, Maß zu halten, sich seiner eigenen Grenzen bewusst zu sein und sich als Teil der Natur und nicht als ihren Herrscher zu begreifen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gibt es heute eine ganze Generation, die nicht mehr in Kontakt zur Natur steht. Das Märchen und der Mythos können hier eine geistige Brücke bauen in das Naturverständnis der Vorfahren und verloren gehendes Wissen bewahren.

 

Die Bezugsquellen der Erzähler*innen

Die traditionellen Stoffe entnehmen die Erzähler*innen großen Sammlungen in Buchform wie die berühmte Sammlung der Brüder Grimm, des Afanasjews russische Märchen, des Pentameron des Basile, oder von Übersetzungen von Schriften der Antike.

Im Internet gibt es groß angelegte Archive, die umfangreiche Stoffsammlungen aus aller Welt im Volltext anbieten, wie etwa www.hekaya.de oder in Englisch www.pitt.edu/~dash/folktexts.html, oder aber Digitaldrucke alter Sammlungen zum Lesen zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel im Gutenberg-Projekt www.projekt-gutenberg.org

Aber nicht nur schriftliche Quellen dienen der eigenen Repertoirebildung, sondern natürlich auch, anderen Erzähler*innen zuzuhören. Internationale Erzählfestivals sind wahre Tauschbörsen von Geschichten!